Die „soziale Frage“ im Industriezeitalter (19. Jahrhundert) in Deutschland.

1. Was versteht man unter „sozialer Frage“?

Wie die Geschichte zeigt, hat jede Gesellschaft ihre „soziale Frage“. Auch wenn man nicht unmittelbar das Recht des Stärkeren und die Mitleidlosigkeit des Lebenskampfes als Daseinsprinzip für Herrschaft und Unterdrückung in der Welt verantwortlich macht, wird man ganz allgemein die soziale Frage umschreiben als die Frage nach den Fehlentwicklungen einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer Sozialordnung. Solche Fehlentwicklungen und deren soziale Bewegungen und Lösungen lassen sich bis in die Frühgeschichte der Menschheit zurückverfolgen.

2. Ursachen und Entstehung der veränderten Sozialstruktur

Die „soziale Frage“ als Folge der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit den sozialen Missständen, die mit der Industriellen Revolution einhergingen, das heißt mit dem Übergang von der Agrar- zur sich urbanisierenden Industriegesellschaft. Dabei war die soziale Frage zu Beginn der Industriellen Revolution nicht ausschließlich eine Folge der Industrialisierung. Soziale Missstände und soziale Not, hervorgerufen durch Naturkatastrophen und den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, hatte es seit dem Mittelalter immer wieder gegeben.

Doch durch die Industrielle Revolution waren soziale Not und Elend am Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen geworden. Ein entscheidender Faktor für den wirtschaftlichen Umwälzprozess war der in allen europäischen Ländern einsetzende explosionsartige Bevölkerungszuwachs. Gründe für diesen Zuwachs waren: Trinkwasserreinigung, Impfung, medizinischer Fortschritt, verbesserte Krankenbehandlung sowie eine gesündere und vielseitigere Ernährung. Zusätzlich begünstigte die Einführung der Gewerbefreiheit und die Bauernbefreiung die Zahl der Eheschließungen, die steigende Geburtenziffern zur Folge hatten. Die ländlichen Gegenden boten der wachsenden Bevölkerung nicht mehr genug Verdienstmöglichkeiten und daraus resultierte eine Landflucht. Die Menschen strömten in die Städte, um hier in den Fabriken Arbeit zu finden, um ihre Familien ernähren zu können. Das Wirtschaftswachstum der Industrialisierung reichte aber nicht aus, um die Arbeiter von materieller Not zu befreien. Fabrikbesitzer waren darauf bedacht, den Gewinn einseitig auf die unternehmerische Seite zu richten (holen).

Um die Leistungskapazität voll auszuschöpfen, kam es zu unmenschlichen und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Wegen ihrem Elend und ihrer Rechtlosigkeit waren die Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft zu einem frei zu vereinbarenden Preis zu verkaufen. Die Lebensumstände waren barbarisch: Arbeitszeiten zwischen 16 und 18 Stunden täglich, mangelhafte Ernährung, ungesunde Arbeitsbedingungen und miserable Wohnverhältnisse. Auch Kinderarbeit war üblich. Kinder waren gezwungen, mit 9 Jahren in Fabriken zu arbeiten, zu der Hälfte des Lohnes der Erwachsenen bei gleicher Arbeitszeit. Die Lebenserwartung stand bei 40 Jahren und es gab keine Altersversorgung, Unfallversicherung oder Schutz gegen Willkür durch Vorgesetzte, wie z. B. Kündigungsschutz. Während sich das Leben der Bürger nach französischem Vorbild verbesserte, wurde das Leben der Arbeiter nur noch elendiger. Durch das Wachstum der Bevölkerung in den Städten wuchs auch die Wohnungsnot. Es bildeten sich Slums, behelfsmäßige Wohnbezirke ohne Anbindung an die städtische Infrastruktur sowie Mietskasernen. Die Wohnverhältnisse war für heutige Verhältnisse in Industriegebieten unvorstellbar, bis zu 10 Personen wohnten auf 14 m². Es fehlte in den Slums an Wasser- und Abwasserleitungen. Später wurden für die Arbeiter massiver gebaute, mehrgeschossige Mietskasernen errichtet („Schnitterkasernen“ auf dem Land).

Wasser und Klosett gab es für alle gemeinsam auf dem Flur. Die Wohnungen der Industriellen Revolution hatten durch die Bauweise mit Innenhöfen nur wenig Licht und waren oft feucht. Die Wohnungsknappheit verursachte hohe Mietausgaben für die Arbeiter, die bis zu drei Viertel des Lohns ausmachten. Massenstreiks führten vor Augen, dass die soziale Frage gelöst werden musste, auch im Hinblick auf Angst vor Revolution und Hungeraufständen.
Verschiedene Institutionen suchten nach Lösungen, um die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Missstände zu verbessern oder zu beseitigen.

3. Lösungen

1. Unternehmerische Fürsorge
2. Christliche Bemühungen
3. Liberale Sozialreform
4. Die Proletarische Revolution von Karl Marx und Friedrich Engels
5. Sozialgesetzgebung (1883-1889)

3.1. Unternehmerische Fürsorge:

Betriebliche Unterstützungskassen bei Krankheitsfällen, Altersversorgung und Vorsorge bei Unfällen und Invalidität wurden eingeführt. Außerdem wurden betriebliche Konsumvereine und Betriebswohnungen gegründet, die zur Verringerung von Lebenshaltungskosten dienten. Kindergärten lösten das Problem der Betreuung der Arbeiterkinder. Aber die unternehmerische Fürsorge trug Züge des patriarchalischen Hausvaters, d. h. es wurde absoluter Gehorsam verlangt. Die Arbeiterbewegung kritisierte deshalb diese Aktivitäten, doch bereitete das soziale Verhalten der Unternehmer die staatlichen Sozialgesetze der 1880er Jahre vor, deren Ziel die materielle Sicherung für alle Arbeiter war.

3.2. Christliche Bemühungen:

Die Amtskirchen als Vertreter des Bürgertums kümmerten sich lange nicht um die Arbeiterfrage. Dafür ergriffen aber einzelne Geistliche die Initiative zur Rückgewinnung des sozialen Engagements der Kirchen. Johann Heinrich Wichern setzte die ersten Bausteine für die evangelische Sozialarbeit. Adolph Kolping gründete 1849 den ersten katholischen Gesellenverein. Freiherr von Ketteler setzte sich ein für Sozialreformen, Koalitionsrecht und Streikrecht. Doch blieb die Masse der Arbeiterschaft von den kirchlichen Beiträgen zur Lösung der sozialen Frage unbeeindruckt. Eine breite Aussöhnung zwischen Arbeiterbewegung und Kirche fand nicht statt.

3.3. Liberale Sozialreform

Der liberale Abgeordnete Hermann Schulze-Delitzsch trat ein für bessere Bildungschancen für die Unterschicht und wirtschaftliche Selbsthilfevereine. Der Liberalismus gewann immer mehr Anhänger, weil Volkssouveränität, unabhängige Gerichte, Menschenwürde, Freiheit des einzelnen, Redefreiheit und Pressefreiheit gefordert wurden. 1844 wurde in Preußen der „Verein für das Wohl der arbeitenden Klasse“ gegründet.

3.4. Die Proletarische Revolution von Karl Marx und Friedrich Engels

Marx und Engels glaubten zwingend voraussagen zu können, dass die miserablen Lebens- und Arbeitsverhältnisse sowie die Klassengegensätze der Bourgeoisie und des Proletariats (Arbeiter), zu einer Proletarischen Revolution führen werden. Danach würden sich die Klassen auflösen und jeder Mensch könne sich selbst in der neuen Kommunistischen Gesellschaft verwirklichen. Marx und Engels waren Anhänger der modernen Naturwissenschaften und stützten sich auf den historischen Materialismus. Religion und übernatürliche Kräfte existierten in ihrer Weltanschauung nicht. Sie waren der Meinung, dass das menschliche Bewusstsein allein von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen gelenkt wird. 1848 veröffentlichten sie das „Kommunistische Manifest“. Darin legten sie dar, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, die durch soziale und materielle Unterschiede entstehen.

Das Kommunistische Manifest endet mit einem Aufruf zum internationalen Zusammenschluss: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch.“ Die Lösung um aus der kontinuierlichen Verschlechterung der Lebensverhältnisse heraus zu kommen, sahen Marx und Engels in einer Proletarischen Revolution. In dieser wird das Proletariat die Herrschaft erlangen und alle alten Produktionsverhältnisse auflösen. Über den Verlauf der Revolution sagten Marx und Engels voraus: 1. Die Revolution wird notwendig und selbstständig ablaufen, sobald die Not und die Klasse der Proletarier groß genug sind. 2. Sie wird international und gleichzeitig stattfinden. 3. Sie wird sich über viele Jahre hinziehen.

3.5. Sozialgesetzgebung (1883-1889)

Der Staat hielt sich gegenüber der „sozialen Frage“ lange Zeit weitgehend gleichgültig. Im Zeitalter der fortschreitenden Industrialisierung, die vor der Jahrhundertwende langsam in eine Hochkonjunktur einmündete, war die „soziale Frage“ ein zentrales Thema. Die „soziale Frage“ war ein politisches Problem geworden. Es entstand die Notwendigkeit, ja der Zwang zum Handeln. Otto von Bismarck (Reichkanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister) entwickelte im Deutschen Reichstag eine staatliche Sozialpolitik, die Deutschland zum fortschrittlichsten Staat der Welt werden ließ. (Zitat: Walter Bussmann) Hans Rosenberg sprach von einem „segensreichen Sozialversicherungssystem“. Soziale Gegensätze in der Gesellschaft sollten durch das Eingreifen des Staates ausgeglichen werden durch die Gesetzgebung. (Buch Seite 119 Rivinius)
Man verabschiedete das Gesetz zur Krankenversicherung, das eine gesetzliche Versicherungspflicht festlegte. Das Gesetz war das erste in einer Reihe von geplanten Sozialversicherungsgesetzen Bismarcks. Ziel war, die arbeitende Bevölkerung von staatlicher Seite aus vor Notlagen zu schützen. 1884 wurde die Unfallversicherung verabschiedet, 1889 wurde die Rentenversicherung, Alters- und Invalidenversicherung eingeführt. Bismarcks Zeitgenossen begrüßten die neue Gesetzgebung als „große und einzigartige Errungenschaft“.

Kritische Zeitgenossen machten Bismarck den Vorwurf, dass seine sozialpolitischen Pläne nicht vom Sozialen, sondern vom Politischen her bestimmt werden, d. h. Bismarck wolle den Staat, die bestehende Monarchie und ihre Gesellschaftsordnung, erhalten. 1890 zwang man Bismarck zum Rücktritt und in den folgenden Jahren wurde durch die Gesetzgebung des Reichstages mehr und mehr Verbesserung für die Arbeiter geschaffen. z. B. Arbeitsschutzgesetze, wie
Einschränkung der Arbeitszeit, verstärkter Schutz für arbeitende Frauen und Jugendliche, Verbot der Kinderarbeit, Regelung der Arbeitsverhältnisse.

Jetzt habt ihr verschiedene Lösungen kennen gelernt, die im 19. Jahrhundert dazu dienten, soziale Not zu lindern oder gar zu beseitigen. Im 20. Jahrhundert wurden viele dieser Lösungen weiter entwickelt, nicht nur um dem Arbeiter soziale Sicherheit zu geben, sondern um „den Arbeiter“ als einen politisch gleichberechtigten Menschen mit den gleichen Rechten und Pflichten wie in jeder anderen Schicht, anzuerkennen. Wie am Anfang schon erwähnt, hat jede Gesellschaft ihre „soziale Frage“, deshalb ist es wichtig soziale Missstände zu jeder Zeit zu erkennen und zu beheben.

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Foto von Crystal Kwok auf Unsplash
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