Der Autor der Kurzgeschichte ist Kurt Marti, der 1921 in Bern geboren wurde. In der Zeit von 1963 bis 1983 arbeitete er als Pfarrer in seiner Heimatstadt. Während des Kalten Krieges stand Marti unter Verdacht, ein Kommunist und Subversiver zu sein. Ohne diesen Erfahrungshintergrund wären vor allem seine Kurzgeschichten – Dorfgeschichten (1960), Bürgerliche Geschichten (1981) und Nachtgeschichten (1987) nicht denkbar.
Die Kurzgeschichte Neapel sehen stammt aus dem Sammelband Dorfgeschichten, welches erstmals 1960 veröffentlicht wurde.
Zusammenfassung von “Neapel sehen”
In der Erzählung des Schweizer Theologen geht es um einen älteren Fabrikarbeiter, der nach jahrelanger schwerer Tätigkeit arbeitsunfähig wird. Zu Beginn der Geschichte wird eine Bretterwand erwähnt als Sichtschutz auf die Fabrik, die der Mann so hasste. Er beschreibt in etwa 12 Sätzen, wie sehr er seine Arbeit am Fließband in einer Fabrik und die Kommentare aus seinem Umfeld dazu, hasste. Von diesen 12 Sätzen beginnen 10 mit “Er haßte…”. Doch als er dann, nach 40 Jahren der harten Arbeit zum ersten Mal, wirklich schwer krank wird, muss er im Bett bleiben. Von hier aus kann er aber nur in den Garten schauen, an dessen Ende der von ihm selbst gebaute Bretterzaun den Blick auf die Fabrik versperrt. Der Blick in den blühenden Garten langweilt ihn zunehmend. Von zuhause aus kann er das Leben im Werk nur noch erahnen. Daher klagt er sein Leid seiner Frau, auf deren Bitten der Nachbar nach und nach die Bretter aus dem Gartenzaun entfernt, damit der alte Mann die Fabrik von seinem Krankenbett aus sehen kann. Erst als er das komplette Werk ein letztes Mal sieht, kann er friedlich sterben.
Interpretation des Inhalts
Die Bedeutung des Titels
Der Titel “Neapel sehen” lässt sich als eine Art Anspielung auf eine neapolitanische Redensart interpretieren, die Ursprünglich auf Homer zurückgeht und von der schon Johann Wolfgang von Goethe in seiner Italienischen Reise berichtete: »Vedi Napoli e poi muori!« sagen sie hier. »Siehe Neapel und stirb!«.
Die Fabrik steht hier sinnbildlich für Neapel, denn obwohl der Mann die Arbeit im Werk hasste (immerhin benutzt Marti das Wort “hassen” ganze 10 Mal auf zwei Seiten), so war die Fabrik doch auch alles, was er kannte. Dort wurde der Mann gebraucht und geschätzt. Im Werk hatte er sich seinen geliebten Wohlstand, sein Haus mit Garten, hart erarbeitet. Der Mann romantisiert die Zeit in der Fabrik, da er durch die Krankheit an das Bett gefesselt ist. Er romantisiert das, was ihn eigentlich erst krank gemacht hat.
Diese Ironie des Schicksals spielt sich im Titel der Kurzgeschichte wieder, schließlich ist der Titel nur “Neapel sehen”, und dennoch erfüllt sich die ganze Redensart mit dem Inhalt der Geschichte, indem der Mann am Ende beim Blick auf die ganze Fabrik zufrieden mit einem Lächeln im Gesicht sterben kann.
Die Hassliebe zur Arbeit
Der Autor verdeutlicht in dieser kurzen Geschichte das paradoxe Verhältnis von Menschen zu ihrer Arbeitsstelle. Viele Menschen arbeiten hart, wodurch sie sich ein anständiges Leben – in diesem Beispiel ein Haus mit Garten – leisten können. Trotzdem hassen sie die Arbeit auf der anderen Seite. Marti verdeutlicht, dass jahrelange harte Arbeit auch krank machen kann.
Wenn sie dann ihre Arbeit beenden, weil sie in den Ruhestand gehen oder krank sind, erinnern sie sich plötzlich nur noch an das Gute aus dieser Zeit. Sie beginne sogar, die Arbeit wieder zu vermissen.
Dieses Paradoxon spiegelt auch die Zeit wieder, in der die Geschichte verfasst wurde. Schließlich befanden sich viele Länder, wie Westdeutschland, wieder im wirtschaftlichen Aufschwung, den Menschen ging es knapp 14 Jahre nach Kriegsende wieder gut. Dennoch sehnten sich viele auch bereits auf Reisen zu gehen, die Nachfrage nach Ferienhäusern stieg beständig und bereits ein Drittel der Westdeutschen verreiste regelmäßig. Italien war zu dieser Zeit das beliebteste Reiseziel der Westdeutschen mit etwa 4,5 Millionen Reisen jährlich.
Die Kurzgeschichte Neapel sehen von Kurt Marti
„Er hatte eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er haßte die Fabrik. Er haßte seine Arbeit in der Fabrik. Er haßte die Maschine, an der er arbeitete. Er haßte das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte. Er haßte die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte. Er haßte seine Frau, sooft sie ihm sagte, heut nacht hast du wieder gezuckt. Er haßte sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er haßte den Arzt, der ihm sagte. Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. Er haßte den Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. Er haßte so viele verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren Arbeit und Haß zum ersten Mal krank. Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus. Er sah sein Gärtchen. Er sah den Abschluß des Gärtchens, die Bretterwand. Weiter sah er nicht Die Fabrik sah er nicht nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus gebeizten Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht alles in Blust. Er glaubte ihr nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. Er glaubte ihm nicht. Es ist ein Elend, sagte er nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe immer das Gärtchen, sonst nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt doch einmal zwei Bretter aus der verdammten Wand, damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum Nachbarn. Der Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. Der Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach einer Woche beklagte er sich, ich sehe immer das gleiche Stück der Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar kam und legte die Bretterwand zur Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das Aus am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehengebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. Ich sehe unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. Der Nachbar kam und tat, wie er wünschte. Als er die Büros sah, die Kantine und so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. Er starb nach einigen Tagen.“
Kurt Marti: Neapel sehen (1960), in: Kurt Marti: Dorfgeschichten. Sigbert Mohn, Gütersloh 1960 (Das kleine Buch 142), S. 60-62.
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Weiterführende Informationen zu “Neapel sehen”
- Quellen und weiterführende Links
- Bücher
- Kurt Marti: Neapel sehen (1960), in: Kurt Marti: Dorfgeschichten. Sigbert Mohn, Gütersloh 1960 (Das kleine Buch 142), S. 60-62
- Werkauswahl, 5 Bde., Bd.1, Neapel sehen